Kurz nachdem wir Gran Canaria verlassen haben erspähten Janschek und Leni ein scheinbar verlassenes Holzboot am Horizont. Zwar herrschten ruhige Wetterverhältnisse, doch die Wellen spielten mit der winzig kleinen Nussschale in der Ferne und wir beschlossen uns aus der Nähe zu vergewissern, dass keine Menschen in Gefahr sind. Umso näher wir dem Boot kamen, desto sicherer wurden wir uns, dass es sich um ein zurückgelassenes Flüchtlingsboot handeln muss. Aufgrund des hohen Rumpfes konnten wir allerdings auch aus kürzester Distanz nicht sicher sagen, dass keine Menschen mehr auf dem Boot waren und so beschlossen Andre und Niclas den Sprung ins Wasser zu wagen und an Bord zu gehen. Als wir die steilen Holzwände erklimmen konnten bot sich uns ein bizarres Bild: einige zurückgelassene Kleidungsstücke und Rucksäcke, zwei funktionstüchtige Außenborder, mehrere Kanister Wasser und mehr als 150 Liter Benzin. Auf den ersten Schock wurde uns aber schnell klar, dass dies ein gutes Zeichen war: es herrschten gute Wetterverhältnisse und alles Lebensnotwendige befand sich an Bord, sodass es keinen Grund gegeben hätte, das Boot zu verlassen, außer einer sicheren Bergung. Wir hatten bereits zuvor die Küstenwache angefunkt, die uns mitteilte, dass sie keine weiteren Maßnahmen ergreifen würde, sofern keine unmittelbare Gefahr für Menschenleben bestehen würde. Da wir nach der Bergungsaktion keinen Funkkontakt zu der Küstenwache mehr herstellen konnten, entschieden Andre und Niclas das Boot die verbleibenden 25 Seemeilen bis Teneriffa zu fahren und dort erneut die Küstenwache anzufunken, um zu verhindern, dass das Benzin und die alten Motoren zu einer kleinen Umweltkatastrophe werden würden. Die ca. fünfstündige Fahrt herrschten in uns gemischte Gefühle: zwar waren wir beruhigt, dass es aus dem diesem Boot offensichtlich alle Menschen gesund herausgeschafft haben mussten, gleichzeitig war es aber auch unvorstellbar, dass über 50 Menschen es gewagt hatten, alles zurückzulassen und sich in diesem kleinen Seelenfänger den Naturgewalten auszusetzen, nur um nach einem scheinbar besseren Leben zu streben. Die Verzweiflung, die diese Menschen antreiben muss, wurde für uns an diesem Tag greifbarer als jemals zuvor. In Funkreichweite von Teneriffa angekommen waren wir sehr überrascht, dass die Anweisung der Küstenwache lautete das Schifffahrtshindernis mit Unmengen Benzin an Bord wieder treiben zu lassen und die Bergungsaktion abzubrechen. Trotz unseres Unverständnisses für diese Anordnung leisteten wir derselben natürlich Folge und ließen das einsame Holzboot wieder zurück. Noch abends in der Koje wurde uns klar, welch unvorstellbares Glück wir haben unser Leben derartig frei gestalten und einfach mal ein Jahr um die Welt segeln zu können – ganz anders als der 25-jährige Ahmet, dessen kopierte Papiere wir in dem Boot gefunden hatten und der nun wahrscheinlich in einem der winzigen Auffanglager auf Gran Canaria auf seine Abschiebung wartet.
Am späten Abend schmissen wir den Anker in einer Bucht vor Los Cristianos im Süden von Teneriffa und den nächsten Tag schlenderten wir durch die Stadt, gingen Jetski fahren und füllten unser auf Gran Canaria neu angebautes Obstnetz wieder auf. Nach einem Tag im Süden von Teneriffa, der uns ähnlich wie schon zuvor Lanzarote und Fuerteventura nicht sonderlich beeindrucken konnte, entschieden wir weiter nach La Gomera zu segeln. Zuvor drehten wir aber noch den dritten Teil unseres Kassenschlagers „Abenteuerliche Schlauchbootmanöver“. Niclas war am frühen Freitagmorgen noch laufen gewesen und bei seiner Rückkehr hatte sich hoher Schwell am Strand gebildet, sodass Andre beschloss Niclas nicht am Strand, sondern im Hafen wieder aufzunehmen. Aber auch in dem schlecht geschützten Hafen stand ordentlich Welle und die Rückfahrt von Niclas und Janschek im Dinghy wurde zur Waschmaschine – schön für Niclas direkt nach dem Sport, etwas unschöner für Janschek direkt nach der morgendlichen Dusche. Nachmittags auf La Gomera in der Marina von San Sebastian angekommen erkundeten wir die Stadt und machten Pläne für die nächsten Tage: auf jeden Fall wollten wir wandern gehen und mit dem Boot ein paar der vielen Buchten abbummeln. Die vielfältige Natur auf La Gomera begeisterte uns alle sofort: tiefe bewaldete Schluchten, hohe Berge, die mit den Wolken ringen, Palmenhaine, und unzählige Kilometer an Wanderwegen über das kleine Paradies. Von den Kanareninseln gefiel uns La Gomera eindeutig am besten!
Nachdem wir das Wochenende in der Marina verbracht hatten, segelten wir die Buchten im Süden der Insel ab. Zwar hatten wir kaum Wind, aber die Insel ist nicht besonders groß und wir nutzten die Flaute, um das Kite-Board mal wieder herauszukramen und hinter unserem Boot zu surfen. Kurz vor Santiago entdeckten wir Höhlen in den zerklüfteten Felsklippen von denen einige mit Tüchern zugehangen waren. Wir hatten schon viel von den Hippies auf La Gomera gehört und konnten es kaum erwarten, die Höhlenbewohner kennenzulernen. Da Niclas noch mit dem Dinghy in Santiago war, um für einen Grillabend am Strand einzukaufen, schwamm der Rest der Crew einfach rüber zum Strand und machte sich mit den Hippies vertraut. Diese luden uns auch direkt abends in ihre „Main-Cave“ ein. Die „Main-Cave“ ist eine der größten Höhlen und dient den 40-50 Strandbewohnern als eine Art Wohnzimmer und Küche. Abends saßen wir zusammen am Feuer und die Hippies spielten auf Trommeln und Blechinstrumenten Musik – mal wieder ein absoluter Gänsehautmoment. Die besten Erlebnisse unserer Reise wurden bisher immer mit Musik veredelt und so werden wir auch diesen magischen Abend sicher niemals vergessen. Aber so hoch wir auch fliegen, die Realität holt uns immer wieder auf den Boden und am Mittwoch war der Tag gekommen, an dem Janschek und Leni uns wieder verlassen haben. Und die Beiden haben einiges auf sich genommen, um wieder ins kalte Deutschland zurückzukehren: Morgens um fünf ging es in aller Dunkelheit mit dem Dinghy zum Strand, von dort mit dem Leihwagen nach San Sebastian, dann weiter mit der Fähre nach Teneriffa und mit dem Bus zum Flughafen, bevor es nach über 3.000 Kilometern wieder „Hallo Deutschland“ hieß. Insbesondere Janschek möchten wir für die unvergessliche Zeit danken und ihm alles Gute für seinen Neustart in Deutschland wünschen. So sehr wir seine Entscheidung bedauern, zeugt diese auch von allerhand Größe und Mut!
Andre, Niclas, Rene und Sophie genossen noch ein paar Tage La Gomera und die Hippiebucht und entdeckten unter anderem eine stillgelegte Tomatenfabrik vor der majestätisch ein traumhafter, uralter Baum thronte, unter dem wir unsere Hängematte aufspannen und eine Siesta einlegen konnten. Dabei trafen wir auch eine Hippie-Oma, die uns erzählte, dass wir bereits nach zwei Tagen in der Bucht in aller Munde seien und man den vorherigen Tag, an dem wir mit den Hippies schnorcheln und Sub-Wing fahren waren, nie vergessen würde. Am Donnerstag ließen wir La Gomera wehmütig hinter uns, um Sophie zurück nach Teneriffa und am Samstag zum Flughafen zu bringen. Außerdem mussten wir auf Teneriffa noch Rene’s Reisepass abholen, den er aufgrund der sehr spontanen Zusage für die Transatlantik erst kurz vor seiner Abreise beantragen konnte und den wir an die Marina von Los Cristianos haben schicken lassen. Wir machten an einer Muringtonne vor der Marina fest, organisierten am nächsten Morgen einen Leihwagen und machten uns auf den Weg zum tiefen Regenwald im Norden von Teneriffa. Dieser ist auf jeden Fall einen Besuch wert und bietet unzählige Wanderwege durch alte Flussläufe und Feuerschneisen. Außerdem lassen sich unter dem dichten Blätterdach die glühend heißen Temperaturen hier auf den Kanaren deutlich besser aushalten. Als wir abends zurückkamen konnten wir in der Dunkelheit unser Boot vom Strand aus nicht wiederfinden. Ein kurzer Check bei Marinetraffic versetzte uns sodann in hellste Aufregung. Das Boot war ca. eine halbe Meile weiter westlich als wir es geparkt hatten. Wir rannten zum Dinghy im Hafen und Andre raste alleine zum Boot, das nunmehr nur noch am Anker – den wir neben der Muringtonne nicht ausgebracht hatten – kurz vor steinigen Klippen hing. Im Boot fanden wir eine Nachricht von Alex. Der Jetski-Fahrer hatte bemerkt, dass unser Boot vertrieben war und sofort reagiert! Ein riesiges Glück für uns!!! Danke Alex! Zu allem Überfluss riss beim Hochziehen der Außenborder noch die Halteleien und Niclas flog beinahe durch das halbe Cockpit. Dieser Tage war wahrlich nicht unser bester, aber dennoch ein riesen Glückstag!
Am nächsten Morgen brachte Andre Sophie zum Flughafen und für die Stammbesatzung der Running Deer begann nun das Warten auf Rene’s Pass. Wir nutzten die Zeit, um einige aufgeschobene und neue Reparaturen am Boot zu erledigen, einzukaufen und alles für die bevorstehenden längeren Segeletappen vorzubereiten. Nebenbei lernten wir in einer Bucht die sechsköpfige Crew der Orlando kennen, die ebenfalls auf dem Weg zu den Kap Verden und in die Karibik ist. Wir beschlossen am Dienstag bei einem guten Wetterfenster gemeinsam zu den Kap Verden zu starten und eine kleine Regatta aus unserem Segelabenteuer zu machen – der Einsatz konnte dabei natürlich nichts anderes sein als eine Runde Bier in der ersten Kneipe auf den Kap Verden. Ernüchtert mussten wir jedoch feststellen, dass Rene’s Pass am Dienstag noch immer nicht eingetroffen war, aber wir fanden es natürlich nur fair unseren neuen Freunden und ihrer Hallberg-Rassy 49 einen kleinen Vorsprung zu lassen. Als der sehnsüchtig erwartete Pass am Freitag noch immer nicht da war, aber uns in der Postfiliale versprochen würde, dass er in der nächsten Woche eintreffen würde, entschieden wir nochmal zurück nach La Gomera zu segeln und die Einladung der Hippis zur Pizzaparty in einem verlassenen Dorf wahrzunehmen. Auf Gomera drehten jedoch die Winde und wir mussten am Montag dringend in einen Hafen, um nicht auf Legerwall zu gehen. Leider waren alle Häfen auf La Gomera restlos überfüllt und so blieb uns keine Wahl außer bei schwerer Kreuzsee, Regenschauern und Sturmböen zurück nach Teneriffa zu segeln – zumindest unser Ölzeug hat sich aber sicherlich gefreut mal wieder Tageslicht zu erblicken. Die nächsten Tage bekamen die Kanaren die Ausläufer eines Atlantiktiefs zu spüren und lagen in Regen gehüllt, sodass wir viel Zeit im Salon und im Mietwagen verbrachten.
Am Mittwoch wagten wir einen neuen Versuch, um Rene’s Pass abzuholen. Dieses Mal fiel die Auskunft in der Postfiliale allerdings deutlich bitterer aus als das vorherige Mal. Rene’s Pass war schon wieder auf dem Weg zurück nach Deutschland, ohne jede Möglichkeit noch abgefangen zu werden. Unsere gute Laune war mit einem Schlag dahin, wir hatten fast zwei Wochen umsonst gewartet und nun keine wirkliche Idee, wie wir weitermachen sollten. Ein Bier später wurden jedoch schnell neue Pläne geschmiedet und wir taten das, was Segler immer tun: improvisieren. Die Lösung für unser Problem heißt Martinique! Das französische Übersee-Department gehört zur EU und kann daher mit einem einfachen Personalausweis angelaufen werden. Außerdem hat Sophie dort Familie, die Rene’s Reisepass entgegen nehmen kann. Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, dass unsere Reisepläne mehr vom Zufall abhängen als von unseren Wünschen und dass gerade dieser Zufall uns immer außergewöhnliche Momente schenkt und so grämen wir uns keine Sekunde, um die verpassten Kap Verden, die wir nun nicht mehr mitnehmen können (zumindest nicht auf diesem Törn), sondern freuen uns über die zusätzliche Zeit in der Karibik. Der Starttermin für unsere Atlantiküberquerung ist Freitag der 04.12.2020, da sich das Tief oberhalb der Kanaren dann aufgelöst hat und die Winde für uns wieder gut stehen. Das bedeutet aber auch, dass uns nunmehr knapp 3.000 Seemeilen offener Atlantik und ca. 25 Tage auf See bevorstehen. Nachdem dieser Plan nun beschlossene Sache ist, steigt die Aufregung an Bord stetig und wir können kaum realisieren, dass schon morgen der größte Segeltrip, den wir jemals unternommen haben, beginnen wird.
In drei Wochen können wir dann – noch motivierter als heute – von den schneeweißen Sandstränden der Karibik berichten! Wir freuen uns unfassbar darauf, dass es jetzt endlich losgeht und wünschen euch allen zuhause eine frohe Weihnachtszeit. In diesen Tagen sind unsere Gedanken mehr denn je bei unseren Familien und Freunden, die in dieser besinnlichen Jahreszeit nicht mehr als eine E-Mail wöchentlich von uns bekommen und sich bestimmt sehr sorgen werden. Wir danken euch sehr für die ganze Unterstützung, die uns wiederfährt, und hoffen die Opfer, die wir euch auferlegen, sind nicht allzu groß.
Ahoi
Andre, Niclas & Rene
Kommentar schreiben
Klaus (Montag, 28 Dezember 2020 12:51)
Habe gerade euren Reise Blog durch die NWZ entdeckt und gelesen....dabei mit Interesse auch den Artikel über Gomera, da ich dort auch schon 2x gewesen bin....Ende der 1990 Jahre!
Auf jeden Fall noch viel Spass , Erfolg und eine handbreit Wasser unter dem Kiel
Und einen warmen Jahreswechsel 20/21 in der Karibik
Gruss von der Küste WHV
Klaus